Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Die Anfänge des Dörfleser Musikvereins liegen ein wenig im Nebel der Geschichte, was vor allem daran liegt, dass die Vereinsgründer es verabsäumt hatten, eine schriftliche Unabhängigkeitserklärung zu verfassen. Unabhängigkeitserklärung deswegen, weil die Wurzeln des Dörfleser Musikvereins in Kronach liegen. Und zwar in dem dortigen Jugendorchester.

In selbigem spielten zur damaligen Zeit etliche Jugendliche aus Dörfles. So viele, dass sie bei dörflichen Veranstaltungen, wie zum Beispiel der Prozession nach Glosberg oder aus Anlass von Geburtstagen der örtlichen Würdenträger, einen eigenen Klangkörper bilden und diese Anlässe musikalisch umrahmen konnten.

Dies wurde jahrelang so praktiziert, bis es eines Tages den Offiziellen des Kronacher Jugendorchesters auffiel und dort Irritationen auslöste. Die Verantwortlichen des frevelhaften Tuns wurden einbestellt und zur Rede gestellt. Es ist nicht überliefert, ob bei dieser Unterredung die Worte ‚Rausschmiss‘ beziehungsweise ‚Austritt‘ fielen, aber im Ergebnis muss ein völliges Versagen der Diplomatie konstatiert werden. Die Fronten waren verhärtet. Die kronachseitige Forderung, Alleingänge künftig zu unterlassen, wurde dörflesseitig als völlig unannehmbar eingestuft.

Das Scheitern einer diplomatisch-einvernehmlichen Lösung setzte die Dörfleser Fraktion unter beträchtlichen Zugzwang. Der musizierenden Dörfleser Jugend musste dringend eine formale Heimat geboten werden und so stand die Idee eines eigenen Musikvereins im Raum.

Nachdem das Formale erfolgreich geklärt war, galt es, den Klangkörper des Dörfleser Ensembles zu formen, war doch der musikalische Betrieb eines veritablen, eigenständigen Orchesters etwas anderes, als ab und an ein Ständchen darzubringen.

Die entsprechende Bestandsaufnahme ergab Folgendes:

  • Instrumente waren vorhanden, da im Besitz der jeweiligen Musiker.
  • Auch Probenräume stellten kein Problem dar, hatte doch die Gemeinde Dörfles vor ihrer Eingemeindung nach Kronach rechtzeitig, durch den Bau des Gemeinde- und Jugendzentrums, vorgesorgt.
  • Notenmaterial wurde teilweise käuflich erworben, teilweise mithilfe des damals schon erfundenen Fotokopiergeräts hergestellt. (Das kleine eingekreiste © auf den Partituren fand keine Beachtung. Schließlich war damals kaum jemand der englischen Sprache ausreichend mächtig.)
  • Blieb noch die Frage der musikalischen Leitung des neuen Klangkörpers offen.

Eine Anfrage bei Hanne Meusel, immerhin zweiter Dirigent des Jugendorchester Kronach, wurde negativ beschieden hat. Selbiger fürchtete, mit Blick auf die Gründungsgeschichte des Orchesters wohl nicht zu Unrecht, erhebliche Interessenskonflikte. In Ermangelung eines Plans B breitete sich zunächst Ratlosigkeit aus. Schließlich ergriff Veit Wich die Initiative. Veit hatte seine aktive Musikerlaufbahn schon vor vielen Jahren beendet und litt bedauerlicherweise an beträchtlicher Schwerhörigkeit.

An dieser Stelle verlässt der Verfasser seine bisweilen etwas ins Spöttische tendierende Tonart, um Veit posthum ein aufrichtiges und herzliches Danke zu sagen. Veits Engagement war getrieben von einem hohen Dörfleser Patriotismus und großer Zuneigung zur Musik und den jugendlichen Musikern und er verdient unser ehrendes Andenken.

Ähnlich wie dazumal der alte Beethoven hatte Veit ein Konzept entwickelt, wie er mit seinem Handikap umgehen wollte:

Zum einen brachte er seine eigenen Noten mit, so dass er die zu probenden Musikstücke in- und auswendig kannte. Zum anderen wurde Thomas Fleischmann an der großen Trommel angewiesen, sein Instrument mit maximaler Lautstärke zu bedienen. Veit instruierte die Instrumentengruppen getrennt nach Melodie- und Begleitinstrumenten, indem er den jeweiligen Part erläuterte und gesanglich vortrug. Bei den hohen und tiefen Begleitinstrumenten eine einfache Übung. Bei dem ersten Stück handelte es sich um einen Walzer, so dass die Begleitung im Wesentlichen aus „um-quick-quick, um-quick-quick“ bestand. Erheblich komplexer gestaltete sich das Training der Melodieinstrumente, hatten diese doch unterschiedliche, teils komplexe Melodiefolgen zu absolvieren. Dennoch klappte das Einstudieren der einzelnen Instrumentengruppen noch leidlich gut. Dies kann vom anschließenden Zusammenwirken der Instrumentengruppen leider nicht so gesagt werden. Schon nach wenigen Notenzeilen lief das Zusammenspiel des Ensembles ins Asynchrone, so dass die Musikanten, einer nach dem anderen, das kakophone Spiel einstellten. Zuletzt hielt nur noch die große Trommel tapfer ihren Rhythmus, bis auch Thomas Fleischmann nach eindringlichem Zurufen der Mitspieler „jetzt hör halt endlich auf“ das Spiel einstellte. Daraufhin stellte auch Veit das Dirigieren ein und fragte: „Und, wie war es?“ Um es abzukürzen: Es galt, eine andere Lösung zu suchen

Ein Ausweg in dieser ausweglosen Lage wurde gesucht und gefunden. Man kam auf ein Konzept, das man im Fußball und bei anderen Mannschaftssportarten „Spielertrainer“ nennt. In diesem Fall also der dirigierende Musiker bzw. musizierende Dirigent. Der geeignetste Kandidat hierfür war eindeutig Ludwig Schmidt. Zum einen war er der älteste unter den Musikern und zum anderen mit einer natürlichen Autorität ausgestattet.

Als Chronist der Wahrheit verpflichtet (soweit Gedächtnislücken dies zulassen) und auch aus Gründen der Fairness gegenüber Veit Wich, muss konstatiert werden, dass auch unter neuer musikalischer Leitung durchaus erhebliche Anlaufprobleme zu überwinden waren. Dies sei an einem Beispiel illustriert:

Eine Abendveranstaltung im Jugendheim stand an und unter anderem sollte das Stück „Nur ein Flirt“ aufgeführt werden. Die Probenzeit für das abendliche Musikprogramm war sehr knapp bemessen und das Einüben erfolgte im Wesentlichen am Nachmittag des selbigen Tages. Mit dem oben genannten Stück hatten vor allem die Holzbläser (für Nicht-Musikexperten: Das sind Klarinetten, Flöten, Saxophon usw.) ihre liebe Not. Um die Abfolge der Töne und Griffe an den Instrumenten einzuüben, verfiel Bandleader Ludwig auf die Idee, dass die Holzbläser das Stück zunächst in halber Geschwindigkeit proben sollten. Dies klappte dann nach einigen Versuchen auch ganz gut.

Die Abendveranstaltung begann und war musikalisch ein voller Erfolg, bis im Programm besagtes Stück „Nur ein Flirt“ anstand. Ludwig zählte ein, perfekt wie weiland James Last (ein berühmter, aber nur der älteren Generation bekannter Bandleader), und die Holzbläser begannen das Stück. Beim Gebrauchtwagenkauf sagt man „gekauft wie gesehen“, in diesem Fall müsste man sagen, „gespielt wie geprobt“. Soll heißen, das Stück begann in halber Geschwindigkeit. So lange, bis die Blechbläser (also Trompeten, Posaunen, Hörner usw.) einsetzten. Diese spielten in normaler Geschwindigkeit, also doppelt so schnell wie die Holzinstrumente. Vielleicht sogar noch etwas schneller, galt ist doch, verlorene Zeit aufzuholen. Die Hoffnung war, dass nun die Holzbläser den Wink verstehen und die Geschwindigkeit ihres Spiels anpassen würden. Dies war indessen nicht der Fall und so endete das Musikstück gewissermaßen unplanmäßig.

In diesem Augenblick hätte wohl auch ein wagemutiger Prophet nicht vorhergesagt, dass unter Ludwigs Leitung die Flotten Franken, wie sie sich dann nannten, schier unglaubliche musikalische Höhen erklimmen würden. Zu diesen gehörte unter anderem die Produktion einer Schallplatte und Tourneen im In- und Ausland. Dies aber viel später. Bis dahin gab es für die Dörfleser Veranstaltungsbesucher noch hin und wieder eins auf die Ohren, was aber mit lokal-patriotischer Freundlichkeit gerne verziehen wurde.

Text: Bernhard Heinlein